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Alle Jahre wieder - systemische Weihnachten


Ein nicht ganz ernst gemeinter (systemischer) Blick auf Weihnachten

 

„Na kommt doch erstmal rein“, die vermatschten Schuhe abtreten, die völlig überdimensionierten Geschenketüten abstellen – …dann beginnt es, alles wie immer – so, wie jedes Jahr. Weihnachten. Fest der Besinnung, Liebe, Ruhe – sollte man meinen. Beobachtet man die Menschen, so würde man meinen, es ist ein verrücktes Paradox, auf das man sich stillschweigend geeinigt hat – vorher hetzen die Menschen gestresst durch die Läden, sie bestellen und lassen sich von gehetzten DHL- und Amazonfahrern beliefern, sie verpacken, sie schmücken. Und dann verbringen sie die Tage gemeinsam – und so, wie jedes Jahr, laufen die Dinge ähnlich ab: die gleichen Floskeln und Phrasen, man arrangiert sich – und manch einer freut sich sogar hin und wieder über das Schöne. „Früher lag immer schon Schnee um die Zeit“, sagt Oma, „steck doch mal das Handy weg“, ergänzt Opa - „Du siehst ja nicht so aus, als würdest du dich freuen“ schallt es bei der Beschwerung von Mutter über den großen Gabentisch. Da ist es wieder: Weihnachten – alle Jahre wieder.

 

 

Doch was passiert da eigentlich systemisch gesehen und was können wir aus dem systemischen Denken über und für Weihnachten lernen? Zunächst sei zu sagen, dass wir im systemischen Ansatz in Wechselwirkungen denken – alles hängt mit allem zusammen, alles bedingt sich gegenseitig – jedes Verhalten, Denken und Fühlen ist Ursache und Wirkung gleichermaßen. Zirkularität (Kreisförmigkeit) statt Kausalität (lineare Ursache-Wirkung). Da, wo Menschen zusammentreffen, bilden sie ein System – und das System der Familie ist in diesem Zusammenhang ein Besonderes. Systeme haben eine ureigenste gemeinsame Geschichte, sie haben eigene Regeln und individuelle Dynamiken – und wo, wenn nicht an Weihnachten, lässt sich dies besonders gut beobachten. Systeme organisieren sich in Mustern. Vor allem die Weihnachtszeit ist ein durchritualisiertes Phänomen des familiären Miteinanders – eine Mischung aus kaloriengetränkten Mahlzeiten, mehr oder minder unnützen oder später im Schrank landenden Geschenken und den gleichen sich im Kreis drehenden Gesprächen. Bescherung, Spaziergang, Kirche, die alte Weihnachtsschallplatte, ein Glühwein mit Schuss, die Weihnachtsgans, die Fahrt zu den Verwandten. Da prallen sie wieder aufeinander - verschiedene Welten, Perspektiven und Generationen – jung und alt, modern und konservativ, traditionelle und woke.

 

Ach, dieses Weihnachten. Immer die gleichen Abläufe: Opa regt sich wild gestikulierend über die Jugend von heute auf („Wie die immer rumlaufen!“) – die Jugend regt sich über die Alten auf („Die regen sich auch nur noch auf…“) - und überhaupt, „…die Politiker machen sowieso, was sie wollen…“ - uns insgesamt gibt es sowieso genug, über das sich alle aufregen könnten. So ticken sie, die Menschen in ihren Systemen – jeder und jede reagiert auf den und die anderen – und die anderen reagieren wieder zurück – manchmal verläuft alles sogar genau, wie letztes Jahr – und das Jahr davor - als würde man eine Wiederholung im TV sehen – so ticken wir Menschen. Es ist Weihnachten, alles Jahre wieder. Zum Glück! Denn systemisch gesehen ist Weihnachten eine hochspannende Zeit – familiäre Strukturen und Dynamiken zeigen sich – ebenso wie manch alter Konflikt. Die Menschen tauschen wieder ihre verschiedenen Meinungen und Perspektiven aus – ihre subjektive Sicht auf die Welt – geprägt von ihrer individuellen Geschichte, Vergangenheit und Persönlichkeit. Jeder Mensch besitzt seine eigene innere Landkarte (Konstruktivismus), mit welcher er auf die Welt blickt – und damit auch auf seine Familienmitglieder. Opa hat dabei genauso gute Gründe für sein Denken, seine Worte und sein Verhalten wie die Teenies in der Familie. Verhalten macht immer Sinn, wenn man den Kontext und die Geschichte kennt – und wenn man mal von außen drauf blickt (META-Perspektive). Schauen wir so auf andere, so können wir uns immer den guten Gründen eines Verhaltens bewusst werden – auch typisch systemisch. So stecken in den verschiedenen Perspektiven immer auch neue Möglichkeiten, ja sogar so manche Ressource – also Sichtweisen darüber, wie man die Dinge noch sehen könnte (Perspektivvielfalt). Und dann erzeugt Sprache auch noch diese Wirklichkeit – so, wie wir die Dinge benennen, so sind sie dann eben auch in unserer Wahrnehmung. „Ihr Jugendlichen könnt euch das überhaupt nicht mehr vorstellen“ hallt es dann über den gedeckten, weihnachtlich geschmückten Tisch. „Iss‘ doch noch was!“ fordert Mutter aus der anderen Ecke und hat die Kelle mit dem Rotkohl schon in der Hand. „…den alten Aldi-Markt haben die nun wirklich abgerissen…“ ergänzt Vater, während er sich noch eine Ladung Kartoffelsalat auf den Teller schippt. Und während der kleine Tim unruhig auf dem Kinderstuhl hin und her wackelt schenkt Oma schon den Glühwein nach und Onkel Rainer lässt ungeschickt den Kloß neben seinen Teller fallen – und Tante Bärbel putzt pikiert und peinlich berührt den Fleck aus der teuren Tischdecke, die nur zu Weihnachten aufgedeckt wird…

 

Es könnte so viel schlimmer sein, dieses Weihnachten. Es gibt in jeder Familie, in jedem Weihnachtsfest, in jedem Menschen etwas Gutes zu finden, etwas Schönes, etwas Bereicherndes, Würdigenswertes (Ressourcenorientierung). Vielleicht ist es dieses Weihnachten an der Zeit, mal etwas „systemischer“ zu denken und zu handeln. Wir könnten mal mehr die guten Gründe und die positiven Absichten im Verhalten anderer sehen und damit etwas ruhiger und gelassener sein. Oder mal wieder die guten und schönen Dinge sehen – das Verbindende, nicht das Trennende. Oder mal ein Muster durchbrechen und es anders machen, als sonst – und das System damit etwas verwirren. Oder einfach mal auf die positiven Seiten schauen, sich was Nettes sagen (Wertschätzung und Anerkennung). Wir könnten viel lernen von diesem systemischen Ansatz – doch während uns ein systemischer Gedanke durch den Kopf huscht, fragt Vater auch schon direkt: „Und, im Job läuft es noch gut? …ihr werdet ja bis 70 arbeiten müssen, wenn das so weiter geht…“ und Opa reagiert prompt mit: „Früher hat uns auch keiner gefragt…“ – … und während der kleine Tim sein Glas Cola aus Versehen umkickt, während zum zwanzigsten Mal „Last Christmas“ im Radio läuft ruft Mutter: „Wir wollten doch noch spazieren gehen…“. Und uns wieder bewusst: Es ist Weihnachten – es ist alles wieder wie immer, es ist alles wieder wie jedes Jahr. Zum Glück.

 

Systemische Weihnachten!

Alle Jahre wieder.

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Wer mehr über systemisches Denken und Arbeiten erfahren und lernen möchte, darf gern hier vorbeischauen:

 

https://www.isolde-richter.de/ausbildung/systemische-beratung-und-coaching


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